Sehnsucht nach etwas Meer

Wer seine Freizeit im „Lockdown light“ nicht komplett auf dem Sofa mit Chips verbringen will, kann sich in Hamburg immerhin noch auf einer Hafenfähre frischen Wind um die Ohren wehen lassen. Voraussetzung ist allerdings, dass man nicht „zu touristischen Zwecken“ unterwegs ist.

Touristenfreie Zone

Die Landungsbrücken habe ich noch nie so leer erlebt,  wie am vergangenen Freitagmittag. Nur wenige Menschen sind auf dem  insgesamt 600 m langen Ponton zu sehen, an dem sonst Barkassen, Ausflugsschiffe und  Hafenfähren festmachen. Auf  Höhe von Brücke 3, wo die Hafenfähren der Linie 62 in Richtung Finkenwerder ablegen, warten gerade mal eine Handvoll Passagiere darauf, dass der Schiffsführer die hydraulische Brücke ausklappt. Für das schon fast gespenstische Szenario gibt’s zwei Gründe: Es ist November – und damit die absolute touristische Nebensaison, auch in der Hansestadt. Zudem sind wir mitten im so genannten „Lockdown light“ im Zuge der Corona-Pandemie, der den Tourismus in der Hansestadt – genau so wie überall – bewusst zum Erliegen gebracht hat, um weitere Ausbreitungen zu verhindern. 

Landungsbrücken - so leer wie "nie"

Wir fahren mit der Linie 62 in Richtung Finkenwerder. Die frische Brise ist diesmal besonders frisch, sodass wir unten im Fahrgastraum der Fähre „Wolfgang Borchert“ Platz nehmen. Das 1993 in Dienst gestellte und 2007 verbreiterte HADAG-Schiff könnte bis zu 250 Passagiere befördern – jetzt ist es fast leer. Im „Lockdown light“ zeigt sich, dass auch die Hafenfähren auf – die jetzt fehlenden – Touristen angewiesen sind. Auch Hamburger Ausflügler*innen sind an diesem schönen Novembertag kaum unterwegs, wie wir später auch am Museumshafen Övelgönne und auf dem Weg entlang der Elbe nach Teufelsbrück feststellen. Vielleicht sind die Leute ja statt an der frischen Luft auf der „Couch zu Hause an der Front“ und futtern Chips – so wie das in eigenwilligen ⇒ Videos von der Bundesregierung vorgegeben wird.

Streng genommen ist zurzeit jede touristische Aktivität sogar verboten. Nach der aktuell gültigen ⇒ „Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg“  sind auch Hafenrundfahrten untersagt, weswegen Barkassen und Ausflugsschiffe seit Anfang November nicht mehr fahren dürfen. Die ⇒ Hafenfähren der HADAG sind dennoch im Einsatz, weil sie quasi als „schwimmende Busse“ den Liniendienst im Hamburger Hafen versehen. Zwischen der Elbphilharmonie und Teufelsbrück sind bis zu 26 Schiffe auf sechs Linien unterwegs. Für die Nutzung sind denn auch Tickets des ⇒ Hamburger Verkehrsverbunds (HVV) gültig, günstige Tages- und Gruppentarife eingeschlossen. Zum Leidwesen der privaten Anbieter von Hafenrundfahrten haben immer mehr Besucher*innen Hamburgs die Hafenfähren längst als preisgünstige Alternative zu den Törns mit Barkassen und Ausflugsschiffen entdeckt. 

Leckere Fischbrötchen

Statt Couch potatoes „futtern“ wir lieber Fischbrötchen im Freien. Dazu bieten sich sogar im „Lockdown light“ Gelegenheiten am Hamburger Hafen: An den Landungsbrücken haben einige Buden geöffnet, darunter ⇒ Brücke 10 ganz am nördlichen Ende der Pier, wo’s die wohl besten dieser Hamburger Snacks geben soll. Auch vor dem „Ableger“ am ⇒ Strandhaus zwischen Övelgönne und Teufelsbrück werden die leckeren Fischbrötchen zum Mitnehmen verkauft, genau so wie vor ⇒ Nuggis Elbkate (Facebook) auf dem  Fähranleger Neumühlen. Bei Matjes- und Backfischbrötchen, dazu der Blick auf die Elbe und sogar ein wenig Sonnenschein – für einige Augenblicke fühlen wir uns nicht mehr – wie in der „Sparversion des Daseins“, sondern wie in „coronabefreiten“ Zeiten.  

So "geh'n" Matjesbrötchen an "Brücke 10"

Das selbstempfundene Glück wird beträchtlich geschmälert, als wir auf dem Weg nach Teufelsbrück den ⇒ Alten Schweden am Elbstrand passieren. Der im Jahr 1999 aus der Elbe gehobene und 217 Tonnen schwere Steinkoloss wurde von Schmierfinken in den vergangenen Wochen so übel zugerichtet, dass in uns regelrechte Wut auf diese mit Sprühflaschen bewaffneten Rowdys hochkommt. Das ist reinster Vandalismus und hat mit „Graffiti“ so wenig gemein, wie der HSV mit der Champions League. Nicht länger ärgern, sondern weitergehen, dabei die frische Luft kräftig einsaugen.

Riesenvogel im Anflug

Als wir nach drei Kilometern  Fußweg an der Elbe entlang den Fähranleger Teufelsbrück erreichen, wird’s über uns dunkel und ziemlich laut. Eine Transportmaschine vom Typ  Beluga XL ist im  Landeanflug auf den  Flugplatz des Airbus-Werks in Finkenwerder. Der Riesenvogel mit einer Flügelspannweite von 60 Metern* bewegt Flugzeugteile zwischen Hamburg und dem französischen Toulouse, auch jetzt während der Corona-Pandemie, in der die Luftfahrtbranche am Boden liegt. Auch das Hamburger Werk wird es treffen. Zwar wurde zwischen Betriebsrat und Konzernleitung vereinbart, dass es bis März 2021 keine betriebsbedingten Kündigungen geben soll. Danach werden nach Medienberichten wohl 2.325 infolge der Luftfahrtkrise abgebaut. Mit über 12.000 Mitarbeiter*innen ist Airbus nach den Asklepios-Klinken der zweitgrößte Arbeitgeber Hamburgs. 

"Riesenvogel" beim Landeanflug auf Aibus-Flugplatz in Finkenwerder

In Teufelsbrück wartet schon die Fähre der Linie 64, die uns nach einer Zwischenstation am Rüschpark zum Anleger Finkenwerder bringt. Prima – da sehen wir auch schon das Schiff der Linie 62, das bestimmt auf uns – und die wenigen anderen Umsteigepassagiere wartet. Denkste. Als unser Schiffsführer die Gangway auf der „64“ herunterlässt, zieht der Kollege auf der „62“ seine ein und legt ab. Drei Minuten zu früh, wie ein Blick auf die Uhr zeigt. Die Fähre der Linie 62 hat um 13.12 Uhr abgelegt, laut Fahrplan hätte sie aber erst um 13.15 Uhr abfahren dürfen. Die betroffenen wenigen Gäste nehmen’s mit Gleichmut und warten 15 Minuten auf das nächste Schiff. Wir regen uns ein wenig auf, zumal wir solche offensichtlichen Willkürhandlungen von Schiffsführer*innen der HADAG schon wiederholt erleben mussten. 

Unser Groll verzieht sich schnell, als wir – erneut an Bord der „Wolfgang Borchert“ – in Richtung Landungsbrücken zurückfahren. Während sich die Sonne an diesem Novembertag schon wieder zur Ruhe begibt, blicken wir vom Heck des Schiffes auf die Elbe und fühlen uns so, als hätten wir ein Stück vom Meer gesehen. Allerdings nicht als Touristen, denn das wäre nicht statthaft.