Annäherung an Sylt

Mit ihrem Buch „Ozelot und Friesennerz“ hat meine geschätzte Ex-Kollegin Susanne Matthiessen einen der Bestseller dieses Sommers vorgelegt. In ihrem „Roman einer Sylter Kindheit“ blickt sie nüchtern auf die siebziger Jahre zurück. Den nahezu durchgehend mit köstlichem Wortwitz gespickten Erinnerungen folgt am Ende eine ehrliche „Auseinandersetzung“ über den Ausverkauf der Insel an diejenigen, die sich Sylt auch heute noch leisten können. Bei mir hat Susannes großartiges Buch wieder zu etwas mehr innerer Annäherung an Sylt geführt. 

Susanne Matthiessen und ihr Bestseller

Susanne Matthiessen wurde 1963 auf Sylt geboren, wuchs dort auf und machte 1982 auf der Insel ihr Abitur. Ich lernte Susanne während unserer beider Praktika bei Radio Schleswig-Holstein (R.SH) 1986 in Kiel kennen. Parallel schloss sie seinerzeit ihr Studium als Diplomjournalistin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ab. Später begleitete sie mich beruflich als Chefin vom Dienst bei R.SH und Programmleiterin von Inforadio Berlin, dem ersten deutschen Nachrichtensender. In ihrer weiteren Karriere war Susanne u.a. Gesellschafterin und Programmdirektorin des brandenburgischen BB-Radios in Potsdam sowie Geschäftsführerin des dpa Audio und Video Service. In der TV-Branche machte sie sich als Redaktionsleiterin der Magazine Dunja Hayali (ZDF), Gabi Bauer (ARD) und Sabine Christiansen (ARD) einen Namen. ⇒ susannematthiessen.de

Susanne Matthiessen | Bild: Foto Hans Scherhaufer

Ozelot und Friesennerz von Susanne Matthiessen
Gebunden: 256 Seiten – Ullstein, Juni 2020, 20 € | E-Book : 16,99 € | Hörbuch: 458 Min., 18,99 € 

"Mein" Sylt: Drangsaliert und hofiert

Ich habe mich eine ganze Weile davor gedrückt, endlich Susannes Buch zu lesen. Schließlich bin ich nicht unbedingt ein glühender Anhänger Deutschlands „beliebtester Ferieninsel“. Zu unterschiedlich waren meine Erfahrungen, die ich bei mehreren Aufenthalten auf der nördlichsten der Nordfriesischen Inseln  gemacht habe. Als 15jähriger wurde ich im Sommer 1968 in einem Zeltlager in Hörnum drei Wochen lang von den älteren „Sportskameraden“  des SV Einbeck 05 – meiner Erinnerung nach – durchgehend verbal gemobbt und körperlich drangsaliert. Ganz anders erging’s mir 33 Jahre später. Bei einem Treffen der Führungskräfte des Bauer Konzerns auf Sylt wurde ich als damaliger Playboy-Verlagsleiter hofiert. Kurz zuvor hatten wir mit der zweiten Veröffentlichung von entblößten Aufnahmen der früheren „Eisprinzessin“  Katarina Witt rekordverdächtige Verkäufe mit der deutschen Ausgabe des Männermagazins erzielt. Sowas kam bei den Bauers gut an. Und wenn Heinz Bauer jemanden verbal tätschelte, taten das die anderen Mitglieder der – damals vor allem männlichen – Führungsclique ebenfalls.

Schlechte Erinnerungen habe ich vor allem an ein verlängertes Wochenende auf Sylt im November 1998. Das war der erste Kurzurlaub mit unserer damals gerade mal fünf Monate jungen Tochter Julia. Während wir im „Strandhotel Sylt“ immerhin noch das Gefühl hatten, als Familie mit Kleinkind geduldet zu sein, kamen wir uns bei mehreren Restaurantbesuchen schon fast wie Aussätzige vor. In einer Art größeren Friesenstube stand zwar kein Kleinkindersitz für unsere Julia zur Verfügung, dafür machte es sich ein fetter Köter mit hängenden Lefzen auf einer Matte zu Füßen seines irgendwie ähnlich aussehenden Herrchens bequem. Das Fressen gab’s aus zwei silbernen Schüsselchen, für Julia gab’s nichts. Der durchgehend vor sich her knurrende Riesenhund störte offensichtlich niemanden.  Wenn sich unser zuckersüßes Kind  gelegentlich mit typischen Babylauten zu Wort meldete, gingen rund um im Restaurant Nasen und Augenbrauen hoch. Wir merkten, dass wir hier nicht willkommen waren und verließen bald das ungastliche Etablissement. 

Eises Kälte auf Sylt im November 1998

Auch unser zweiter Anlauf mit Baby am frühen Abend des nächsten Tages – ebenfalls in einem der damals angesagten Restaurants auf Sylt – verlief wenig erfreulich. Diesmal waren es nicht Köter samt Herrchen, die uns die Freude am Abendessen vermiesten. Nach meiner Erinnerung waren es vielmehr die typisch hochnäsigen Blicke, mit denen Menschen aus vermeintlich niederen Zünften gestraft werden, wenn sie sich in die Domänen der Hochnasen vorwagen. Auch das uns gegenüber ablehnende Verhalten des Personals machte uns zu schaffen: Kein Lächeln in das Körbchen unseres zauberhaften Babys und schon gar kein freundliches Wort in  Richtung der Eltern.

Damals hatten Inge und ich uns vorgenommen, nie wieder im Leben nach Sylt zu reisen. Nur drei Jahre später musste ich diesen Vorsatz schon wieder über den Haufen werfen, weil Verleger Heinz Bauer seine Führungsriege im Spätherbst 2001 auf die Insel eingeladen hatte. Nachdem wir 2013 von Oberbayern nach Hamburg umgezogen waren, haben wir mit unserer kleinen Familie zwei verlängerte Wochenenden auf Sylt verbracht. Beide Male hatten wir in den Spätsommern 2013 und 2015 herrliches Wetter, wanderten durchs Watt, badeten in der Brandung und genossen irgendwo am Strand in offenen Liegestühlen den Sonnenuntergang. Dabei  gelangten wir zu der  Erkenntnis, dass Sylt nicht nur hochnäsig – sondern vor allem auch wunderschön ist. 

Susannes Sylt: Kindheit und Kritik

Von den landschaftlich traumhaft schönen Seiten Sylts schwärmt auch Susanne Matthiessen zu Recht in ihrem Bestseller „Ozelot und Friesennerz“. Meine  geschätzte Ex-Kollegin hat allerdings ein Buch geschrieben, dass viel mehr ist, als der Untertitel „Roman einer Sylter Kindheit“ verheißt. In den Erinnerungskapiteln gibt es gelegentliche Begegnungen mit Promis der 1970er Jahre, die der Insel viel Glanz und Ruhm verliehen. Allen voran der (2011 verstorbene) Industriellenerbe Gunter Sachs, der im Privatjet einflog, für üppige Restaurantbesuche seiner Entourage aufkam und auch nie „knausrig mit Trinkgeld“ war. Auch dem – ebenfalls längst verstorbenen – Krupp-Erben Arndt von Bohlen und Halbach, den Sängern Freddy Quinn, Ivan Rebroff und anderen Promis begegnete Susanne Matthiessen in ihrer Kindheit bzw. Jugend, weil sie Kunden bei ihren Eltern waren. 

Familie Matthiessen hatte ein Pelzgeschäft in Westerland und einen Kürschnerbetrieb mit bis zu 40 Mitarbeiter*innen. Der Vater kreierte die Modelle und Mutter brachte sie an die wohlhabende Kundschaft – so lief das erfolgreiche Geschäftsmodell. Für die beiden Kinder blieb da kaum noch Zeit, insbesondere in den Sommermonaten nicht, beklagt sich Susanne mehrfach in dem Buch, ohne dabei die Eltern „in die Pfanne zu hauen“. Meine stets gradlinige Ex-Kollegin habe ich vor allem daran wiedererkannt, dass sie keinen Versuch unternimmt, sich von Beruf und Geschäft ihrer Eltern populistisch zu distanzieren. Pelze waren Symbole des Wohlstands. Pelzgeschäfte hatten neben Juwelieren und teuren Parfümerien die besten Adressen und Kürschner war ein geschätztes Handwerk in den 1970er Jahren. Tierschützer kamen mit ihren Sprühflaschen erst viel später. 

Die Kapitel über Susannes Kindheit und Jugend empfand ich als ausgesprochen unterhaltsame Lektüre. Mit ihrer nüchternen –  jedoch mit viel Wortwitz ausgestatteten  – Schreibweise gleicht sie gelegentlich fehlende Dramatik aus. Nein, das Buch enthält in den ersten acht Kapiteln keine Skandale. Und wer bei Sylt in den 1970er Jahren an „Sex, Drugs and Rock’n Roll“ denkt, wird in Susannes Buch nicht fündig. Der Skandal und die Dramatik des Buches folgen im Abschlusskapitel. Hier setzt sich die gebürtige Sylterin kritisch mit der Entwicklung ihrer Heimat auseinander. Und sie schont dabei auch nicht die Insulaner.  Dafür, dass große Teile der Insel inzwischen Unternehmern, Investoren und Spekulanten gehören, tragen die Sylter auch selbst Verantwortung, meint Susanne. Sie hätten einfach nicht die „Strandräubermentalität“ gehabt, die den Inselbewohnern gern nachgesagt wird. Nein, nicht die Sylter nehmen die Projektentwickler aus, die auf die Insel kommen, sondern „die Investoren marschieren ein wie Eroberer“. Derweil fahren viele Sylter mit der maroden und regelmäßig verspäteten Marschbahn vom Festland nach Sylt zur Arbeit,  weil sie sich die Insel zum Wohnen und Leben längst nicht mehr leisten können. 

Es sind vor allem Prolog und Epilog, die aus dem unterhaltsamen „Roman einer Sylter Kindheit“ ein großartiges Buch machen. In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Insel beweist Susanne, dass sie nicht nur eine gute Schriftstellerin, sondern auch eine großartige Journalistin ist. Ich hoffe, dass ich bald mehr von Susanne Matthiessen zu lesen bekomme. Es muss ja nicht (nur) über Sylt sein. Themen gibt es nun wirklich zuhauf.