Abschied von meinem Schnutenpulli
Ein selbstgemachter Mund- und Nasenschutz war da, als ich ihn im Frühjahr 2020 besonders dringend brauchte. Jetzt müssen die bunten „Schnutenpullis“ den sterilen medizinischen Gesichtsmasken weichen. Mein Nachruf.

Masken aus dem Handy-Shop

Könnt ihr euch noch an die Tage Ende März / Anfang April des vergangenen Jahres erinnern? Damals saßen wir schon mehr als zwei Wochen im ersten so genannten „Lockdown“ fest. Außenminister Heiko Maas hatte erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen. Bilder von LKWs der italienischen Armee mit Corona-Opfern aus Bergamo waren tagelang in gefühlter Dauerschleife auch über deutsche Bildschirme gefahren. Spätestens als die Fernsehplauderer Johannes B. Kerner und Oliver Pocher öffentlich über ihre „Corona-Schicksale“ berichteten, muss jedem der Ernst der Lage bewusst geworden sein. 

Als wir dann auch noch Mund- und Nasenbedeckung anlegen sollten, war guter Rat teuer; genau so wie die zu wenig vorhandenen medizinischen Gesichtsmasken. So genannte OP-Masken, die einige Wochen zuvor bei „Budni“ und in anderen Drogeriemärkten noch für wenige Cent zu haben waren, sollten plötzlich drei Euro pro Stück kosten und wurden in Hamburg seltsamerweise fast schon exklusiv von einem Handy-Reparatur-Service angeboten. Das Preisgefüge für FFP2-Masken war auf dem „Schwarzmarkt“ so hoch, dass man die Dinger lieber dem medizinischen Personal in Kliniken überließ – übrigens auch aus Anstand. 

Inge mit Maske Marke Eigenbau

Basteltipps von Drosten

Also haben viele damit begonnen, Mund- und Nasenbedeckungen selbst zu basteln. Christian Drosten, der berühmte Virologe, unterstützte diese Eigeninitiativen: „Wenn jemand Lust hat, sich eine Maske zu nähen und damit ein gutes Gefühl in der Öffentlichkeit hat: Ja, klar, natürlich. Kann man ruhig machen“, sagte er in seinem Podcast Coronavirus-Update. Und dann gab „Deutschlands gefragtester Corona-Experte“ (Spiegel) auch noch wertvolle Tipps für die kreative Gestaltung der „Schnutenpullis“: „Wenn man das aus einem bunten Stoff macht, der vielleicht ganz schick aussieht und man nicht so aussieht wie ein Krankenhausmitarbeiter in der Öffentlichkeit, drehen sich vielleicht auch nicht so viele Leute danach um.“ Gut zu wissen war auch, dass  vollgesabberte Masken bei 60 Grad waschbar seien oder bei 70 Grad im Backofen sterilisiert werden können – oder war das umgekehrt?

Wer bei solchen Bastelkursen gut aufpasste, konnte bald Mund- und Nasenbedeckungen über den Eigenbedarf hinaus herstellen und die Überproduktion gewinnbringend veräußern. Wichtig war allerdings, dass dabei  juristisch nicht zu beanstandende Bezeichnungen verwendet wurden. Längst hatten auch einschlägige Anwälte in der Corona-Pandemie neue Erlösmöglichkeiten erkannt. So wurden vermeintliche Verstöße gegen produktspezifische Kennzeichnungspflichten nach §4 des Medizinproduktegesetzes wiederholt mit kostenpflichtigen anwaltlichen Abmahungen „geahndet“. Wer beispielsweise  seine Eigenkreationen als „Mund- und Nasenschutz“ bei eBay offerierte, musste schon fast zwangsläufig mit „teurer Post“ von einem Anwalt rechnen, weil unberechtigterweise der Begriff „Schutz“ verwendet wurde. „Bedeckung“ oder auch „Maske“ wären dagegen nicht zu beanstanden gewesen.

"Maske to go" war kein Schnäppchen

Die Kosten für solche Abmahnungen und der damit verbundene Ärger waren zumeist so groß, dass viele „Maskenhersteller im Nebenerwerb“ bald wieder aufgaben und das Geschäft Bekleidungsherstellern wie  ⇒ Trigema überließen. Der deutsche Sport- und Freizeitbekleidungshersteller hat seitdem „wiederverwendbare Behelfs-, Mund- und Nasenmasken“ im Sortiment. Während dort die Mund- und Nasenbedeckung aus Stoff und Polyester etwa 12 Euro kostete, musste man in Hamburger Boutiquen schon knapp 20 Euro ausgeben, um eine „Maske to go“ zu erwerben. 

Egal ob selbst gebastelt oder teuer eingekauft: Selten zuvor hat ein Ac­ces­soire eine so schnelle und große Verbreitung erfahren, wie die Stoffmaske ohne medizinisches Gütesiegel, spätestens seit Einführung der allgemeinen Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften ab Ende April des vergangenen Jahres. Wer im Sommer 2020 die eher schnöde blau-weiße OP-Maske überstülpte, galt als einfallslos. Promis und solche, die es sein wollen, trugen lieber Designermodelle aus feinem Stoff zur Schau. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder trat (fast) nur noch mit einer Mund- und Nasenbedeckung in den weiß-blauen Farben seines Freistaates in der Öffentlichkeit auf. Fans des FC St. Pauli trugen stolz das braun-weiße Stoffstück über Nase und Mund, wenn sie ihre Kiezkicker schon nicht selbst im Hamburger Millerntor-Stadion bejubeln konnten. 

Kein Bedarf mehr für meinen Schnutenpulli

Es ist wohl kaum vorstellbar, dass schnöde hellblaue OP- oder weiße FFP2-Masken jemals mit dem putzigen Begriff „Schnutenpulli“ belegt worden wären, der schließlich im Juli zum „Plattdeutschen Wort des Jahres 2020“ gewählt wurde. Dennoch muss ich jetzt wohl Abschied nehmen von dem guten Stück mit dem rot-weißen Caro-Muster, weil Virolog*innen das empfehlen und Politiker*innen das so wollen. So dürfen in Hamburg bereits ab 22. Januar Busse, Bahnen und Hafenfähren vorerst nur noch mit OP- oder FFP2-Masken benutzt werden. Gleiches gilt auch für Einkäufe in den (noch) geöffneten Geschäften und auf Wochenmärkten sowie beim Betreten öffentlicher Gebäude. Für meinen Schnutenpulli besteht nun kein Bedarf mehr.