50 Jahre Radio 1: Still alive – and kicking
Ein halbes Jahrhundert nach dem Sendestart gilt das junge Programm der BBC immer noch als Trendsetter für modernes Radio in Europa. Horst Müller erinnert an die erste „Breakfast Show“ und an einige Höhe- sowie Tiefpunkte aus 50 Radio 1-Jahren. | Titelbild: Tony Blackburn beim Sendestart von Radio 1 – BBC/YouTube
Damals war ich so fasziniert vom englischen Musikradio, dass ich am 30. September 1967 zu spät zur Schule kam, mein Freund Rüdiger ebenfalls. Auf keinen Fall wollten wir an diesem Samstag den Sendestart von Radio 1 verpassen. Pünktlich um 07.00 Uhr lief auf der neuen BBC-Popwelle der erste Jingle „The Voice of Radio 1“ – dann meldete sich Disc Jockey Tony Blackburn: “Good morning everyone, welcome to the exciting new sound of Radio 1.“
AUDIO (1:01 Min.) Sendestart von BBC Radio 1 am 30. September 1967, 07.00 Uhr | Disk Jockey: Tony Blackburn | Intro: Beefeaters – John Dankworth | Erster Titel: Flowers in the Rain – Move
Was wir in den folgenden 90 Minuten – so lange dauerte die „Breakfast Show“ seinerzeit – über die blubbernde Mittelwelle im niedersächsischen Einbeck zu hören bekamen, war für die altehrwürdige BBC sicherlich „aufregend“ und „spannend“. Geübte Hörer der Piratenstationen fanden vor allem das wieder, was sie von Radio Caroline, Radio London und den anderen Seesendern bereits kannten: Aktuelle Musiktitel aus der britischen Hitparade, einen flott und zumeist laut sprechenden Disc Jockey sowie Jingles, die jetzt verkündeten „Radio 1 is wonderful.“ Nicht zu hören waren dagegen Werbespots, weil die öffentlich-rechtliche Anstalt in Großbritannien keine Werbung ausstrahlen darf, übrigens bis heute nicht.
„Piraten“ entern die BBC
Die Konkurrenz der „Piraten“ musste die BBC kaum noch fürchten. Sechs Wochen vor dem Radio 1-Start war am 14. August 1967 der „Marine Broadcasting Offences Act“ in Kraft getreten. Damit wurde es in Großbritannien verboten, so genannte Piratensender zu betreiben, für diese zu arbeiten oder die Stationen außerhalb der drei-Meilen-Zone auf andere Weise zu unterstützen, zum Beispiel durch Werbebuchungen. Zehn der damals elf Offshore-Radios hatten bis zum Inkrafttreten des Gesetzes ihren Betrieb eingestellt, auch das zuletzt sehr erfolgreiche Radio London. Nur Radio Caroline sendete vorerst weiter, bevor die Station wegen knapper Finanzen im Frühjahr 1968 für Jahre den Betrieb einstellen musste.
Auch Tony Blackburn hatte seine Karriere 1964 beim legendären Piratensender Radio Caroline begonnen, war später zum Konkurrenten Radio London gewechselt, bevor er rechtzeitig vor dem Sendestart von Radio 1 dem Lockruf der BBC nach London folgte. Seine Aufgabe als „Morning DJ“ sei es gewesen, „abgedroschene Witze“ zu machen. Zu politischen Themen war seine Meinung dagegen nicht erwünscht: „Selbst wenn ich nur der Queen zum Geburtstag hätte gratulieren wollen, wäre dafür die Genehmigung ‚von oben‘ erforderlich gewesen“, erinnerte sich Blackburn 2014, als er aus Anlass seines 50jährigen „Radio-Jubiläums“ Gast der Talkshow „Piers Morgan’s Life Stories“ im Programm von ITV war. Nach dem Sendestart von Radio 1 hatte Tony Blackburn auch Moderationen von TV-Sendungen wie „Top of the Pops“ übernommen und zählte in den 1970er Jahren zu den bekanntesten Größen im britischen Showbusiness.
Linktipp: Auf der Website „Radio Rewind“ gibt es umfangreiches Text-, Bild- und Audiomaterial zu „50 Years of Radio 1“; unter anderem die Titelliste der ersten „Breakfast Show“, das Programm des ersten Sendetages sowie Jingles und Intros vieler Sendungen
Neben dem damals 24jährigen Blackburn standen Ende September 1967 immerhin 16 weitere „Ex-Piraten“ in den Diensten der öffentlich-rechtlichen Anstalt, lediglich 12 Disc Jockeys hatte die BBC im eigenen Haus für die neue Popwelle rekrutiert. Immerhin waren die Männer von den Seesendern Garanten für erfolgreiches Radio. Bis zu 30 Millionen Briten sollen Mitte der 1960er Jahre Radio Caroline und Co. eingeschaltet haben. Radio 1 brachte es in seiner „Blütezeit“ nach dem Sendestart bis zu Beginn der 1990er auf maximal 25 Millionen Hörer pro Woche und war damit klarer Marktführer auf der Insel.
Hörerschwund nach Umformatierung
Das änderte sich ab 1993 nach der strikten Umformatierung von der Pop- zur Jugendwelle mit hohen Anteilen an Dance, Rap und alternativem Rock. Innerhalb von anderthalb Jahren verlor das Programm bis Ende 1994 ein Drittel seiner Hörerschaft. In dieser Zeit wurde auch ein Großteil des Sendepersonals ausgetauscht. Einige populäre Diskjockeys verließen freiwillig Radio 1, weil sie mit den Umstellungen nicht einverstanden waren. Im Jahr 2001 musste Radio 1 schließlich die Marktführerschaft in Großbritannien an das für Hörer ab 30 Jahren formatierte BBC-Programm Radio 2 abgeben. Der Abwärtstrend war auch in den folgenden anderthalb Jahrzehnten nahezu ungebrochen. Im zweiten Quartal 2017 hatte Radio 1 nur noch einen Marktanteil von 6,2 Prozent, während der von Radio 2 mit 16,7 Prozent annähernd dreimal so hoch ist.
Die Gründe für den Hörerschwund sind nachvollziehbar: Im Laufe der Jahre bekam das frühere Erfolgsprogramm der BBC mehr Konkurrenz von kommerziellen Anbietern; darunter auch der Senderkette des deutschen Bauer Media-Konzerns. Zudem haben junge Hörer längst alternative Quellen entdeckt, um Musik ihrer Wahl zu hören, allen voran die Streamingdienste Spotify und Apple Music. Auch mangele es in Großbritannien – ähnlich wie in Deutschland – an geeignetem Nachwuchs, beklagte die frühere BBC-Radiodirektorin Helen Boaden bereits bei den Radio Days Europe 2015 in Mailand. Junge Talente würden sich lieber auf YouTube, Facebook oder Instagram in eigener Regie ausprobieren, als auf eine Karriere in einem der angestammten Hörfunkprogramme zu hoffen.
Das „Großmaul“ am Morgen
Dennoch, wer’s bei BBC Radio 1 als Disc Jockey ins Tagesprogramm geschafft hat, ist ein Star auf der Insel – auch heute noch. Nick Grimshaw präsentiert seit nunmehr fünf Jahren die „Breakfast Show“. Nebenbei hat der 34jährige immer wieder Fernseh-Engagements, unter anderem als Moderator von Musikshows oder Juror der in Großbritannien ausgesprochen erfolgreichen Casting-Serie „The X Factor“. Während Grimshaw eher als der „nette Junge von nebenan“ gilt, der nach eigenem Bekunden der Devise folgt „Ehrlichkeit macht das Leben leichter“ (The Guardian, 10. Juni 2017), eckte sein Vorgänger in der Morgensendung, der bullige Chris Moyles, häufiger an – nicht nur bei den Hörern, sondern auch bei der BBC-Sendeleitung.
Das „Großmaul“, wie Moyles noch heute genannt wird, prahlte beispielsweise auf dem Sender, dass er „Five Pints of Lager“ (knapp drei Liter Bier) am Tag trinken würde. Ein anderes Mal nannte er seine Hörerinnen „Dirty Whores“ (schmutzige Huren), weil sie in der Dusche urinieren würden. Zwei Jahre bevor Moyles im September 2012 Radio 1 verließ, beschimpfte er in der Frühsendung in einem nahezu halbstündigen Monolog die BBC-Führung, unter anderem wegen angeblich ausstehender Gagen. Immerhin präsentierte Chris Moyles die „Breakfast Show“ über einen Zeitraum von fast neun Jahren und hält damit den Rekord unter allen 15 Disc Jockeys bzw. Teams, die bislang in der Radio 1-Morgensendung eingesetzt wurden.
Savilles Verbrechen und ahnungslose Kollegen
Der Beitrag zum Jubiläum wäre unvollständig, ohne Jimmy Saville zu erwähnen. Der Exzentriker unter den Disc Jockeys war von 1968 bis 1987 mit mehreren wöchentlichen Shows im Programm von Radio 1 zu hören und machte nebenher eine große Karriere im Fernsehen. Erst nach seinem Tod im Oktober 2011 wurde öffentlich bekannt, dass Saville vielfachen Kindesmissbrauch begangen hatte. Langjährige Kollegen wollen von den schlimmen Verbrechen nichts gewusst haben. Als Tony Blackburn 2014 in einer Talkshow von Piers Morgan auf Saville angesprochen wurde, antwortete er ausweichend:
„Ich persönlich mochte ihn nicht. Er war immer dieser verrückte Jimmy Saville. Es war kaum möglich, sich mit ihm normal zu unterhalten. Es gab Gerüchte über ihn. Aber ich habe nie gesehen, dass er irgendwas Schlimmes machte.“
Die BBC-Führung hatte noch nach Savilles Tod kritische Berichterstattungen im eigenen Haus verhindert. So wurde Ende 2011 ein fertiger Beitrag mit Enthüllungen über die Verbrechen des ehemaligen Radio- und Fernsehstars in der TV-Nachrichtensendung „Newsnight“ abgesetzt. Als die Umstände ein knappes Jahr später öffentlich bekannt wurden, musste der damalige BBC-Generaldirektor George Entwistle zurücktreten, weil ihm in den Medien „Vertuschung“ vorgeworfen wurde.
Im Zuge des Saville-Skandals wurde auch bekannt, dass zumindest ein weiterer früherer Disc Jockey von Radio 1 wegen sexueller Belästigungen von der britischen Justiz belangt wurde. Dave Lee Travis – so der Vorwurf – soll sich insgesamt elf jungen Frauen „sexuell genähert“ haben, darunter auch Mitarbeiterinnen der BBC. „DLT“, wie sich der bärtige Musikmoderator gern selbst nennt, gehörte von 1967 bis 1993 zum Team von Radio 1, davon knapp drei Jahre lang auch als Moderator der Morgensendung. Mitte der 1960er Jahre war er mit der Co-Moderation der TV-Kultsendung „Beat Club“ an der Seite von Uschi Nerke im Deutschen Fernsehen auch hierzulande bekannt geworden (Bild: Radio Bremen via YouTube). Travis wurde schließlich im September 2014 zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er selbst fühlt sich bis heute unschuldig und verweist in Interviews und öffentlichen Statements immer wieder darauf, mit den Verbrechen seines Ex-Kollegen Jimmy Saville nichts zu tun gehabt zu haben.
Annie Nightingale – die 75jährige Trendsetterin
Bei der ehemaligen Pop- und heutigen Jugendwelle der BBC haben Männer das Sagen, zumindest im Programm. Zurzeit wird nur eine von fünf Sendeschienen im Tagesprogramm von einer Frau präsentiert: Von Montag bis Freitag ist die 33jährige Clara Amfort zwischen 10.00 und 12.45 Uhr bei Radio 1 zu hören. Nach dem Sendestart dauerte es gar drei Jahre, bis im Jahr 1970 mit Annie Nightingale überhaupt zum ersten Mal eine Frau ans Mikrofon durfte – und mit einigen Unterbrechungen bis heute blieb. Die inzwischen 75jährige ist – ähnlich wie ihr Sender – „still alive and kicking“ und präsentiert in ihrer Freitagnacht-Sendung „trendige“ Musik.
Ohnehin zählt Radio 1 seit dem eigenen Sendestart zu den Trendsettern in der europäischen Radiobranche und gilt bis heute als Vorbild auch für junge Angebote im deutschen Hörfunk. Norbert Grundei, Programmchef der jungen NDR-Welle N-JOY, lobt vor allem die „crossmediale Ausrichtung“ sowie „Veranstaltungen und Aktionen“ der britischen Kollegen. Dabei denkt er zuerst an das „Ibiza Wochenende“. Jedes Jahr lässt die BBC internationale Musikstars begleitet von eigenen Disk Jockeys auf die Baleareninsel einfliegen und überträgt das mehrtägige Spektakel nicht nur im Radio, sondern auch im „Netz“. Dort ist auch werktäglich die „Live Lounge“ per Videostream zu sehen, in der aktuell angesagte Künstler und Weltstars wie Coldplay oder Ed Sheeran live und ohne jegliche Playback-Unterstützung im Londoner Studio auftreten.
Die „Live Lounge“ ist auch Teil von Radio 1 Vintage. In dem digital – auch im Internet weltweit – verbreiteten Sonderprogramm soll es vom 30. September bis 2. Oktober noch einmal die Höhepunkte aus 50 Jahren Radio 1 geben, verspricht Programmchef Ben Cooper auf der BBC-Website: „Es wird ein großer Spaß sein, die Popkultur und die Musik aus 50 Jahren noch einmal zu erleben“. Mit dem schon 2004 verstorbenen John Peel wird auch ein Mann zu hören sein, der bis heute als einer der profiliertesten Kenner und Förderer der britischen Musikszene gilt. Den Anfang des dreitägigen Revivals macht allerdings – so wie vor 50 Jahren – Tony Blackburn am 30. September um 07.00 Uhr: „Good morning everyone, welcome to the exciting new sound of Radio 1.“