Mauerfall verschlafen
Als am Abend des 9. November 1989 die Mauer fiel, habe ich tief und fest geschlafen. Ein paar Erinnerungen an die Tage vor 32 Jahren, die auch in meinem Leben viel verändert haben. Ohne die Deutsche Einheit hätte ich mir wohl nie meinen Jugendtraum erfüllen – und einen Radiosender aufbauen und leiten dürfen. Sicherlich wäre ich auch ohne vorherigen »Mauerfall« nicht Professor an einer Hochschule geworden.
»Welches Datum haben wir heute?« habe ich heute Morgen Inge gefragt. Meine Frau musste erst mal auf ihrem iPhone nachschauen, bevor sie mir mit »9. November« die korrekte Antwort geben konnte. Tatsächlich scheint dieses wichtige Datum in der deutschen Geschichte allmählich aus unseren Köpfen zu verschwinden. Kaum jemand denkt heutzutage noch an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zurück. In der Reichsprogromnacht organisierte und lenkte das Nazi-Regime brutale Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Auch das zweite wichtige Ereignis, der sogenannte »Mauerfall« am 9. November 1989, wird kaum noch registriert oder gebührend beachtet. Dabei habe nicht zuletzt ich allen Grund dazu, die Tage in der ersten Novemberhälfte vor 32 Jahren in würdiger Erinnerung zu behalten.
Das Schiffsunglück in der Nordsee
Der 9. November 1989 begann mit einer traurigen Nachricht: In der Nacht zuvor war das Fährschiff »Hamburg« auf dem Weg von der Hansestadt in das britische Harwich bei stürmischer See in der Nordsee mit einem Frachter kollidiert. Drei Menschen kamen bei dem Schiffsunglück ums Leben, zwölf weitere wurden schwer verletzt. Die Fähre konnte dennoch aus eigener Kraft noch Bremerhaven anlaufen, wo ich sie mit anderen Reportern und Fernsehteams am frühen Morgen des 9. November erwartete. Damals war ich Leiter des Hamburger Studios von Radio Schleswig-Holstein und vor allem ein sogenannter „rasender Reporter“. Ich berichtete den ganzen Tag über von der Columbuskaje für R.SH und andere deutsche Radioprogramme. Sogar das österreichische Programm „Ö3“ hat mich damals mehrfach live aus Bremerhaven zugeschaltet. Gegen 17.00 Uhr war ich zurück im Hamburger R.SH-Studio. Dort habe ich noch einige Beiträge mit Originaltönen für den nächsten Morgen aufbereitet und wollte anschließend nur noch nach Hause und ins Bett.
Kein Morgen wie jeder andere
Freitag, 10. November 1989. Ich hatte Frühschicht an diesem Tag. Meine Aufgabe war es, aktuelle Informationen aus Hamburg und dem Umland für das Programm von R.SH aufzubereiten und Beiträge einzusprechen. Von zu Hause aus führte mich der Weg zuerst zum Bahnhof, wo ich mir gegen 04.30 Uhr die aktuellen Ausgaben der Hamburger Tageszeitungen besorgte. Beim Blick auf die Titelseiten war ich verwirrt. Da stand in großen Lettern sowas wie „Mauerfall“. Die nächste Überraschung ereilte mich vor dem Studio in der Deichstraße, wo ich zu dieser frühen Stunde keinen Parkplatz finden konnte. Überall waren Trabis, Wartburgs und andere merkwürdige Automarken, die ich bis dahin nicht kannte, abgestellt. Bei einem Wartburg, der direkt vor der Eingangstür stand, steckte ich eine Visitenkarte an die Windschutzscheibe: »Klingelt bei R.SH!«.
Ungewöhnliche Studiogäste
Ich hatte gerade damit begonnen, die Zeitungen zu lesen, als es an der Studiotür klingelte. Als ich öffnete standen vier irgendwie abenteuerlustig wirkende junge Männer im Alter zwischen 25 und 35 vor mir. Es begann sofort ein lebhaftes Gespräch über den noch am Tag zuvor für unwahrscheinlich gehaltenen »Mauerfall«. Sie berichteten, dass sie ausgerechnet bei R.SH zuerst von der überraschenden Grenzöffnung erfahren hatten und anschließend gleich in Richtung Hamburg gestartet seien. Bald setzten wir das Gespräch in der Frühsendung fort und verabredeten uns für den nächsten Abend zur Dorfdisco in Warsow. Das Versprechen habe ich tatsächlich eingehalten, obwohl ich illegal in die noch bestehende DDR einreisen musste, weil die Grenzöffnung zunächst offiziell nur für die Richtung Westen galt. Ernsthafte Probleme hatte ich deswegen nicht. Später erfuhr ich aus »meiner Stasiakte«, dass ich während des vermeintlich illegalen Aufenthalts in Warsow durchgehend von der Staatssicherheit »begleitet« wurde. Einer der vier neuen Bekannten war IM, also inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Wer das war, habe ich nie herausbekommen – und wollte es auch irgendwie nicht.
Von Hamburg nach Schwerin und weiter
Schon Mitte November bin ich mit Zustimmung und Unterstützung meines Chefs, Hermann Stümpert, ganz nach Schwerin übergesiedelt. Der großartige Privatradiopionier und damalige Programmdirektor von Radio Schleswig-Holstein hatte sofort erkannt, dass die intensive Berichterstattung aus dem Nordosten weitere Hörer an unseren Sender binden würde. Gut zwei Jahre später durfte ich dann mit Antenne MV den ersten Privatsender in Mecklenburg-Vorpommern aufbauen und bis Ende 1998 leiten. Nach sechs Jahren kehrte ich wieder in den Osten zurück. Diesmal nach Sachsen als Professor für Redaktionspraxis an der Hochschule Mittweida. Das alles hätte ich ohne den »Mauerfall« wohl nicht erleben dürfen. Und ich hätte wohl 1996 auch Inge nicht kennengelernt, die damals Programmchefin von Antenne Thüringen war und mit der ich seit 23 Jahren glücklich verheiratet bin. Mein Leben wäre ohne die Ereignisse am 9. November 1989 anders verlaufen. Besser wohl kaum.